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Die Praxis als Schutzraum - Ansätze zum Erkennen und Intervenieren bei akuter partnerschaftlicher Gewalt gegen Psychotherapiepatient*innen
Sören Kuitunen-Paul, Hendrikje ter Balk & Martina Hahn
(4 Fortbildungspunkte / Gebühren: 23,50 Euro DGVT-Mitglied; 28,50 Euro Nicht-Mitglied)
Zusammenfassung:
Frauen und Personen mit psychischen Erkrankungen sind besonders häufig von Gewalterfahrungen im Rahmen partnerschaftlicher Beziehungen (englisch „intimate partner violence“, IPV) betroffen. In der psychotherapeutischen Praxis zeigen sich vielfältige Folgen von IPV: Sowohl direkte Folgeerkrankungen (z. B. Belastungsstörung bei anhaltender Traumatisierung) als auch Schwierigkeiten in der Diagnostik treten auf. Behandelnde erfahren oft erst im Laufe der Therapie von Gewalterfahrungen. Anhand eines Fallbeispiels wird die komplexe Problematik anschaulich gemacht. Bei akuter IPV stellt sich die Frage, ob eine Psychotherapie begonnen/weitergeführt werden soll in Abhängigkeit vom Kontakt zu Täter*innen. Aus nationalen und internationalen Veröffentlichungen werden Empfehlungen abgeleitet, die u. a. zeigen, dass zum Wohle der Betroffenen bei IPV nicht zwangsläufig an Frauenberatungen oder Frauenhäuser weiterverwiesen werden muss, sondern ein Fortbestehen der Therapie wichtig ist. Bei akuter Gefährdung und Einverständnis der Patientin ist dies in Einzelfällen aber sinnvoll. Unabhängig davon erscheint es empfehlenswert, dass ein Abklärungsprozess mit Anti-Viktimisierungsmaßnahmen und – so lange möglich – eine Aufrechterhaltung der therapeutischen Arbeit zum Tragen kommen. Eine Psychotherapie kann dazu beitragen, dass zunächst das Erlebte verbalisiert und kritisch reflektiert werden kann, so dass sich dann weiterführende Therapiemaßnahmen und Interventionen ergeben, die auch eine psychische Distanzierung zum Täter/zur Täterin ermöglich. Unterstützende psychotherapeutische Weiterbildungen sind perspektivisch wünschenswert.
Schlüsselwörter: Beziehung, Bindung, Empowerment, Komorbidität, Trauma, Viktimisierung
Therapy practice as a safe haven – approaches for assessment and intervention in psychotherapy clients who experience acute intimate violence
Abstract:
Women and persons with mental disorders are at increased risk of suffering from intimate partner violence (IPV). Consequences of IPV can be frequently seen in psychotherapeutic settings: Both disorders induced by IPV (e. g. stress disorder due to constant traumatization) and difficulties during assessment procedures may appear. In many cases, patients will be reluctant to reveal IPV at the beginning of the therapeutic process. A case study illustrates these issues. In cases where IPV is currently taking place, therapists may consider discontinuing a therapy, depending on the willingness of patients to end the relationship with the violent partner. We analyze several national and international guidelines for dealing with IPV in health settings, which suggest that therapy need not necessarily be terminated. Transferring patients to specialized institutions for women suffering from violence may, however, be indicated when patients agree, and when their safety is in acute danger. More importantly, psychotherapy may exercise a stabilizing effect on these patients. By verbalizing and reflecting on experienced acts of violence, patients may experience relief as well as feeling empowered to make decisions on how to define their relationship to the perpetrator. For therapists, this may require a specialized training in assessing and supporting IPV victims.
Keywords: relationships, attachment, empowerment, comorbid disorders, trauma, victimization
1. Einleitung
Erst seit dem letzten Jahrhundert wird zwischenmenschliche Gewalt, insbesondere gegen Frauen, nicht mehr nur als einzelnes isoliertes Ereignis verstanden, sondern vielmehr in übergreifende Muster eingeordnet bzw. genderspezifisch und minoritätsspezifisch konzeptualisiert, mit Schwerpunkt auf weibliche heterosexuelle Betroffene (WHO, 2013, S. I)[1]. Die Lebenszeitprävalenz für das Erleben von Gewalt innerhalb einer partnerschaftlichen Beziehung wird von der WHO mit 30 % angeben, was sich so auch in Deutschland zeigt (BKA, 2019). Die kriminalistische Auswertung der Partnerschaftsgewalt aus dem Jahr 2019 zeigte auf, dass 141.792 Opfer von vollendeten und versuchten Delikten der Partnerschaftsgewalt betroffen sind (BKA, 2019). Gewalt innerhalb einer partnerschaftlichen Beziehung wird als „intimate partner violence“ (IPV) bezeichnet, mit den Unterformen einseitige Gewalt gegen den/die Patient*in („intimate terrorism“) und Gewalt, bei der wiederholt beide Partner*innen Gewalt ausüben bzw. davon betroffen sind („situational couple violence“; Johnson & Leone, 2005). IPV-Handlungen sind fundamentale Verletzungen der Menschenrechte der Betroffenen (WHO, 2013). Das trifft prinzipiell auf alle Ausprägungen von IPV zu, d. h. auf die körperliche, sexualisierte, psychische, ökonomische, digitale und soziale Gewalt (vgl. Brzank, 2009). Hierbei muss berücksichtigt werden, dass in allen sozialen Schichten und in jeder Altersstufe Personen von IPV betroffen sein können. IPV geschieht überzufällig häufig während und kurz nach einer Trennung bzw. Scheidung, bei Personen mit früheren Gewalterfahrungen sowie während Streitigkeiten z. B. wegen Eifersucht, Erziehungsansichten, finanziellen Sorgen oder Arbeitslosigkeit (Bogat, Garcia & Levendosky, 2013; FRA, 2014). Damit wird IPV zu einem Thema, das auch Psychotherapierende selbst in den meisten Fällen für sehr wichtig halten (Wenzlaff, Goessmann & Heine-Brüggerhoff, 2001).
2. Zusammenhang von IPV und psychischen Störungen
Gewaltakte stellen die Betroffenen vor die Herausforderung, einen Umgang mit dem Erlebten finden zu müssen. Für Betroffene können sich gesundheitliche Beeinträchtigungen und soziale Ausgrenzungen von teils enormem Ausmaß ergeben (Brzank, 2009). Hervorzuheben ist, dass IPV sowohl als unspezifischer Risikofaktor für psychische Erkrankungen verstanden werden kann, als auch als akuter bzw. chronischer Stressor, der bei vorhandener Vulnerabilität zum Ausbruch einer psychischen Erkrankung führt. Beispielsweise berichteten 54 % der betroffenen Frauen von späteren psychischen Beeinträchtigungen, darunter Angst(attacken) (32,4 %), Depression (13,2 %) und Essstörungen (4,4 %; Brzank, Hellbernd & Maschewsky-Schneider, 2004) – also allesamt erhöhte Prävalenzen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (21,3 %/10,6 %/1,4 %; vgl. Jacobi et al., 2014). Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass IPV Rezidive wie etwa Rückfälle in den Substanzkonsum bei einer bestehenden Substanzkonsumstörung begünstigen kann. Neben diesen dargestellten pathogenen Faktoren sind eine Reihe weiterer gesundheitsgefährdender und beeinträchtigender Folgen von IPV bekannt. Nach einer Übersichtsarbeit von Black (2011) zählen dazu: Schlafprobleme, Suizidalität, Selbstverletzungen, riskante Substanzkonsummuster, chronische gastrointestinale Symptome, sexuelle Funktionsstörungen und unerklärbare Schmerzen des Urogenitaltrakts, Fehlgeburten und Geburtskomplikationen, gehäufte Blasen- und Nierenentzündungen, Vaginalblutungen, sexuell übertragbare Erkrankungen, chronische Schmerzen wie Kopfschmerzen, kognitive Auffälligkeiten und Hörverlust. Zusammenfassend gesagt setzt sich offensichtlich die Erkenntnis durch, dass IPV weit verbreitet ist und weitreichende Konsequenzen und Folgeerkrankungen nach sich ziehen kann.
Erwähnt werden muss, dass die zeitliche Abfolge durchaus auch umgekehrt sein kann. So werden Menschen mit psychischer Störung häufiger von IPV betroffen als Menschen ohne akute psychische Störung (vgl. WHO, 2013, Box 1). Es liegt also nahe, davon auszugehen, dass IPV in Analogie zu traumatischen Ereignissen mit dem Vorhandensein psychischer Störungen assoziiert ist, ohne dass damit für den Einzelfall ableitbar ist, welche zeitliche Abfolge oder welche Art der gegenseitigen Beeinflussung bei einzelnen Patient*innen vorliegt.
3. Anhaltende Gewalt als therapierelevante Form der IPV
Bei anhaltender Gewalt handelt es sich um ein wiederholt und aktuell auftretendes, schädigendes Ereignis. Nicht immer sind dabei Verletzungen, Schürfungen, Hämatome, Strangmarken oder anderweitige Abzeichnungen von Gewalt an unterschiedlichen Körperstellen sichtbar, zumal diese aus Angst und Scham oft verdeckt werden. Typische Folgen umfassen vielmehr somatoforme Symptome und dissoziativ-neurologische Störungen (z. B. anhaltende Kopfschmerzen, ungeklärte chronische Schmerzen), eine Zunahme von Symptomen bestehender Störungen (z. B. bei Essstörungen, Abhängigkeitserkrankungen vermehrte Angst und/oder eine depressive Symptomatik) und Symptome, die einer (komplexen) posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ähneln. Letztere fasst Gysi (2021, S. 90) aufgrund fehlender diagnostischer Zuordnung in einer neuen Begrifflichkeit zusammen: BSAT – Belastungsstörung bei anhaltender Traumatisierung. Im Unterschied zur PTBS dauert bei BSAT der Auslöser noch an. Nach Gysi zeigen sich im Rahmen der BSAT Intrusionen, Hyperarousal, Vermeidung sowie Störungen der Selbstorganisation. Dabei gilt zu beachten, dass sich Intrusionen nicht immer nur auf vergangene Ereignisse beziehen, sondern zusätzlich als mögliche Warnhinweise und/oder Signale für bevorstehende reale Ereignisse und Gefahren verstanden werden könnten. Hyperarousal kann als erlernte Reaktion auf Täter*in-Reize (z. B. das Öffnen der Tür, die Tonlage des Täters/der Täterin o. Ä.) verstanden werden. Vermeidungstendenzen können sich in Form einer anhaltenden Depersonalisation und/oder Derealisation zeigen. Dissoziative Phänomene können in den Situationen selbst als ein (notwendiger) Überlebensmechanismus verstanden werden, da die Flucht aus einer gewaltbereiten Partnerschaft (noch) nicht gelingt. Zusätzlich zur Vermeidung kann auch die fehlende Ansprache der Geschehnisse in der Therapie/der therapeutischen Beziehung gewertet werden. Dissoziative Phänomene können darüber hinaus mehrere Tage bis Wochen anhalten. Die Störungen der Selbstorganisation umfassen die Affektregulation, das Selbstkonzept (Selbstabwertung, Selbsthass, Wertlosigkeitsgefühle bis hin zu wahnhaften Ausprägungen) sowie die Beziehungsgestaltung zu Mitmenschen (Gysi, 2021, S. 91). Klar wird, dass bei Patient*innen mit BSAT-Symptomen immer auch die Abklärung von anhaltender Gewalt als Ursache zu bedenken und in der therapeutischen Praxis zu berücksichtigen ist.
In der Behandlung von BSAT bei akuter IPV ist zu beachten, dass aufgrund der akuten IPV-Gefahr oftmals therapeutische Interventionen, die im Umgang mit der posttraumatischen und auch komplexen posttraumatischen Belastungsstörung erlernt werden (z. B. imaginative Verfahren wie die Herstellung eines Wohlfühlortes), nicht greifen können. Patient*innen berichten in der Regel nicht vordergründig zu Beginn einer Psychotherapie von anhaltender Gewalt in einer Beziehung. Dies ist ihnen oftmals nicht möglich, so dass sie eher aufgrund anderer Thematik eine Psychotherapie aufsuchen. Für Psychotherapeut*innen bedeutet dies jedoch im Rahmen der Möglichkeiten, anhaltende Belastungen „mitzudenken“ und in der Therapieplanung zu berücksichtigen, insbesondere, wenn „klassische PTBS-Symptome“ gezeigt werden. Die Therapie mit Betroffenen, die unter einer BSAT leiden, fokussiert nicht auf die Verarbeitung der Geschehnisse. Im Vordergrund steht
- der Aufbau einer tragfähigen Beziehung sowie die Herstellung der äußeren Sicherheit;
- wenn möglich allgemeines Screening über anhaltende Gewalt und eine Diagnostik;
- Auf- und Ausbau eines tragfähigen gegebenenfalls interdisziplinären Netzwerks;
- Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung;
- Psychoedukation (auch über strafrechtsrelevante Inhalte), Erarbeiten eines konkreten Notfallkoffers (Anlaufstellen in der Nacht, am Abend, bei wiederkehrender Gewalt);
- Hinarbeiten zur Herstellung der äußeren Sicherheit und Distanzierung vom Täter/der Täterin.
Psychotherapeutisch stabilisierende Interventionen (z. B. imaginative Verfahren) sind bei vorliegender BSAT bzw. bei anhaltender Gewalt kontraindiziert (Gysi, 2021, S. 93).
4. Fallbeispiel zu Erkennung von und Umgang mit akuter IPV und BSAT
4.1 Vorstellung mit Schwierigkeiten im Alltag und Beziehungsproblemen
Im Folgenden wird ein Auszug eines Fallbeispiels, in dem anhaltende Gewalt in der Therapie thematisiert werden konnte, dargestellt:[2]
Eine etwa 50-jährige Frau suchte die Behandlung aufgrund erlebter Unfähigkeit im Alltag und Beziehungsabhängigkeit zu einem Mann auf. Die Patientin schilderte, dass sie allein mit dem pubertären Sohn zusammenlebe. Sie habe keine Ausbildung abschließen können, beziehe derzeit Hartz-IV-Leistungen und halte sich mit Nebenjobs „über Wasser“. Die Patientin erlebe sich als unfähig, sich selbständig im Alltag in der weiteren Öffentlichkeit zu bewegen. Ebenso schilderte sie, dass sie sich von einem ehemaligen Mitpatienten abhängig fühle, in dessen Begleitung sie sich jedoch in der Öffentlichkeit sicher fühle. Dies ermögliche ihr mehr aktive Teilhabe am Leben. Die aktuelle Beziehung zu einem anderen Mann, bei getrennten Wohnungen, wird zunächst als stabilisierend dargestellt. Es sei selbstwertsteigernd, einen Partner für sich gewonnen zu haben und nicht mehr alleine leben zu müssen. Gleichsam fühle sie sich in vielen Situationen unsicher, daher kann sie sich z. B. nicht auf gemeinsame Urlaube einlassen oder ohne große Anspannung bei ihm, in seiner Wohnung, sein.
Somatische Symptome zu Beginn der Therapie umfassten Schlafstörungen, Herzrasen, Beklemmungen, Hyperarousal, Hypervigilanz, innere Unruhe, muskuläre Verspannungen, Erschöpfung, Müdigkeit, reduzierte Belastbarkeit, Antriebsstörungen, Konzentrationsstörungen, Dissoziationen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen. Psychisch äußert sich die Problematik in diffusen Ängsten, z. B. „Verlassenwerden, Alleinsein, Versagen“, Ängste in Menschenmengen, in geschlossenen Räumen, vor Autobahnfahrten, durch negative Grundstimmung, Stimmungsschwankungen, Grübeln, Traurigkeit, Wut, Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit, Leere, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Ausgeliefertsein, Schuld- und Schamgefühle, in reduziertem Selbstwertgefühl, sozialem Rückzug, Vermeidung, bei einer überwiegend abhängigen Persönlichkeitsstruktur. Als Diagnosen wurden vergeben: F43.1, F41.1, F41.0, F48.0, F44.7, F33.1(komplexe Traumafolgestörung [kPTBS], Angstneurose/Generalisierte Angststörung, Panikstörung, Erschöpfungssyndrom, dissoziative Störungen gemischt, rezidivierende mittelgradige depressive Episoden). Die Patientin kommt also vordergründig mit Alltagsproblemen („dem Gefühl der Insuffizienz“) in die Behandlung. Gleichsam wird durch die Andeutungen bezüglich der Beziehungen und das Vorliegen einer kPTBS deutlich, dass eine weitere Eruierung der derzeitigen und früheren Lebenssituation notwendig wird, da es Indizien für anhaltende Gewalt in der Beziehung gibt.
4.2 Behandlungsbeginn: Hinweise auf psychische Gewalt
Zu Beginn der Behandlung lag der Fokus auf der Herstellung einer ausreichend tragfähigen therapeutischen Beziehung, auf deren Basis die Erhebung der Sozialanamnese, die diagnostische Abklärung und Eruierung der derzeitige Beziehungssituation und (perspektivisch) auch möglicherweise vorhandener so genannter Täterkontakte erfolgte. Es sollte für die Therapeut*innen klar sein, dass bei vorliegenden malignen Erfahrungen auf der Beziehungsebene auch die therapeutische Beziehung nur bedingt von Vertrauen gespeist sein kann, d. h. manche Patient*innen bleiben der Therapie gegenüber skeptisch bis ablehnend. Die äußere Sicherheit im konkreten Fallbeispiel war alleine durch gegebene Existenzsorgen (Bezug von Hartz IV) beeinträchtigt. Die Frau berichtete, dass sie den Kontakt zum Ex-Ehemann, mit dem sie in Erziehungsfragen immer wieder aufeinandertraf, als einschüchternd und emotional belastend erlebte. Dieser habe ehemals auch körperliche Gewalt ausgeübt; er setze der Patientin und auch dem gemeinsamen Sohn weiterhin durch psychische Gewalt zu.
In den Gesprächen im Fallbeispiel sind eindeutige anhaltende Stressoren zumindest psychischer anhaltender Gewalt verbalisiert worden. Im Hinblick auf diagnostische Fragestellungen bei anhaltender Gewalt können spezifische Fragen (jedoch unter der Berücksichtigung einer tragfähigen und stabilen therapeutischen Beziehung) gestellt werden (vgl. Tabelle 1).
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Wenn möglich, können die Fragen der Gewalterfahrungen und drohenden Gewalt auch noch konkretisiert werden:
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Wichtig für Psychotherapeut*innen ist lückenlose Dokumentation. Daher sollten die Antworten der Betroffenen möglichst wortgetreu festgehalten und Suggestivfragen vermieden werden. Gegebenenfalls eigenen sich hier auch Tonaufnahmen. |
Tabelle 1: Diagnostische Fragen nach Gysi (2021, S. 92)
4.3 Behandlungsbeginn: Langsame Interventionen
Die Patientin konnte es als entlastend erleben, in der Therapie über die anhaltende Gewalt sprechen zu können und eine Positionierung durch die Therapeutin zu erfahren. Die praktische Hilfe im Lebensalltag konnte über diese annehmende und mitfühlende Haltung auf andere Stellen ausgeweitet werden. Dabei ist es wichtig, die erwachsene Patientin so viel wie möglich selbstständig erledigen zu lassen oder dies zu fördern, damit ein Gefühl von Selbstwirksamkeit erfahren und verinnerlicht werden kann, eben als Überschreibung der alten Hilflosigkeit und Unfähigkeit.
Die Patientin konnte gestärkt werden, einen bereits bestehenden Kontakt zum Jugendamt zu nutzen, in dem sie erstmalig über das Verhalten des Ex-Mannes berichtete. Unterstützt wurde sie durch eine therapeutische Stellungnahme, nachdem es ein einmaliges therapeutisches Gespräch mit dem Sohn der Patientin gegeben hatte. Es wurde weiterhin erarbeitet, eine Erziehungsberatungsstelle aufzusuchen, wo der Sohn letztlich gut angebunden werden konnte und dessen Mitarbeiter Ansprechpartner für die Belange des Kindes gegenüber dem Jugendamt wurde. Hierüber war es der Patientin mehr und mehr möglich, zu lernen, sich abzugrenzen und zu distanzieren und sich aufgrund dieser neu erworbenen Fähigkeit stärker zu positionieren. Dies wirkte sich langfristig stärkend und stabilisierend aus.
Für Klärung und Stützung der existentiellen Lebenssicherung wurde angeregt, sich die Hilfe des ambulanten betreuten Wohnens (BeWo) zu sichern, so dass Behördengänge und Antragstellung in Begleitung besser gelingen konnten. Es gab zwei Therapiegespräche, in denen die BeWo-Kraft zugegen war. Der gemeinsame Austausch sei für die Patientin sehr bedeutsam gewesen. So wurde es ihr möglich, sich selbst als eigenständige Person mit eigenen Rechten wahrnehmen zu können. In dem Fallbeispiel wurde zur Unterstützung ein interdisziplinäres bzw. multiprofessionelles Netzwerk auf- und ausgebaut. Hilfen für das Kind bzw. den Jugendlichen wurden zusätzlich initiiert.
In einer Psychotherapie ist es generell wichtig, vorhandene Ressourcen der Patient*innen zu nutzen und zu stärken. So kamen wir auch auf die aktuelle Paarbeziehung im Sinne einer Ressource zu sprechen. Die Patientin berichtete auch hier in einer spürbar idealisierten Art und Weise, dass der Partner so rücksichtsvoll und verständnisvoll sei und das, obwohl die Patientin als Partnerin ja schwierig sei, nämlich voller Ängste und Misstrauen. Es war schnell spürbar, dass die Patientin Ambivalenzen ausblendete. Mit der Haltung, Widerstände nicht zu brechen, konnte die Patientin im Verlauf der weiteren Therapie einen Raum erfahren, in dem mehr und mehr Vertrauen und Sicherheit erfahrbar wurde. Statt die Person des Partners in Frage zu stellen, ist es auch hier wichtig, ein stärkendes Gegengewicht zu installieren: bestärkendes, wohlwollendes, mitfühlendes Begleiten der erwachsenen Patientin.
Je mehr dies gelang, umso besser konnte die Patientin dann auch auf kritische, problematische Inhalte der Paarbeziehung schauen. Dabei ist es wichtig, dass sie im Erleben von Sicherheit und Kontrolle gestärkt wird. Das Herausfordernde an dieser Stelle ist, dass die Patientin im geschützten Raum der Therapie sich wagt, die erfahrenen Verletzungen und den damit verbundenen Schmerz wahrzunehmen und nicht wie im Alltag zu verdrängen. Mit diesen schmerzlichen Gefühlen in Kontakt zu kommen stellt eine enorme Belastung dar und bedarf einer therapeutischen Begleitung, um nicht wieder als flutend erlebt zu werden. Für Therapeut*innen ist dies u. U. eine Herausforderung, weil es auch bedeuten kann, auszuhalten, dass Patient*innen erst einmal in vielleicht schädigenden Umgebungen bleiben. Hier gilt es abzuschätzen, ob eine akute Gefährdung für Kinder, die in der Familie leben, besteht. Bei akuter Gefährdung müssen zeitnahe überlebenswichtige Interventionen getroffen werden und gegebenenfalls auch eine Kindswohlgefährdung beim Jugendamt gemeldet werden. Angesichts des begrenzten Platzes kann an dieser Stelle nicht weiter auf Kindeswohlaspekte eingegangen werden.
Der Vorteil dieses „langsamen“ Arbeitens ist, dass Patient*innen in der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit gestärkt werden. Darüber können sie mehr und mehr selbst erleben, dass dies nicht das Leben ist, das sie wollten, und können auch wahrnehmen, dass sie u. U. weiteren Schaden erfahren. Von außen „gerettet“ zu werden, mindert das Erleben eigener Wirkmächtigkeit und stärkt eben genau wieder ein Abhängigkeits- und das eigene Defizitgefühl und sollte deshalb soweit wie möglich vermieden werden.
4.4 Biographische Anamnese zur Rolle wiederholter Gewalt
In der Sozialanamnese wurden u. a. frühere körperliche, sexualisierte und psychische Gewalterfahrungen sowohl von nahestehenden Verwandten als auch in einem Kinderheim eruiert, die sich in späteren Beziehungen erneut zeigten. In Bezug auf die als umfassend erlebte Unfähigkeit der Patientin, selbstständig den Alltag bewältigen zu können, geht es in der Therapie ganz grundlegend darum, die Alltagsstabilität und damit die erwachsene Person zu stärken sowie eigene Ressourcen (u. a. auch durch Erfahrungslernen) auf- und auszubauen sowie eine Distanzierung von früheren erlebten Situationen herzustellen. „Ich bin in 2021, bin erwachsen und über 50 Jahre alt, ich lebe nicht mehr in familiären Abhängigkeitsverhältnissen wie in damaliger Kindheit und Jugend“. In diesem Fall wurde mit der Versorgungsarbeit nach der psychodynamischen imaginativen Traumatherapie (PITT) von Luise Reddemann (2021) in Kombination mit verhaltenstherapeutischen Methoden gearbeitet, die eine Würdigung früheren Leids bei gleichzeitiger Aktivierung und Stärkung der Alltagsperson ermöglicht.
Das Beschwerdebild wurde auch psychoedukativ erläutert im Hinblick auf innere Kompensationsmöglichkeiten, den „Sinn“ von Symptomatik und natürlich auch auf Veränderungsmöglichkeiten. In diesem Kontext wurde ein Erklärungsmodell für aufrechterhaltende Faktoren erarbeitet. Über den psychoedukativen Ansatz war es der Patientin möglich, sich selbst besser verstehen zu können.
In einer Psychotherapieplanung steht bei anhaltender Gewalt vordergründig die Herstellung der äußeren Sicherheit primär als Zielsetzung; diese kann aber oftmals nur in einem längeren Prozess und mit zunehmenden Ressourcen erarbeitet werden. Psychoedukativ ist es ebenfalls notwendig, auch über die Möglichkeiten einer potenziellen Anzeige und gegebenenfalls auch (anonymer) Beweissicherung zu informieren.
Das therapeutische Vorgehen bedarf einer stetigen Psychoedukation und Transparenz therapeutischer Interventionen, damit die Patientin ein Verständnis der Arbeit bekommt und sich darauf einlassen kann. Wiederkehrend zeigten sich im therapeutischen Verlauf u.a. Symptome der Übererregung (in Form flutender Angstgefühle, u. a. ein Symptom der BSAT). Neues Erfahrungslernen und die Aneignung neuer Bewältigungsstrategien können unter Hochanspannung nicht erlernt werden. Daher besteht ein weiteres Ziel in der Behandlung und therapeutischen Planung in der Affektregulation. Neben im klinischen Bild beobachtbaren Hyperarousal zeigten sich weitere Symptome der BSAT wie z. B. erlebte Flashbacks, Intrusionen und auch dissoziative Zustände. Bei anhaltender Gewalt gilt hier jedoch zu beachten, dass psychotherapeutische Interventionen nicht dazu beitragen sollten, bestehende Gewalt „besser“ zu ertragen. Der Fokus der Behandlung liegt auf der Förderung eigener Ressourcen, die zur Herstellung der äußeren Sicherheit benötigt werden. Gängige Stabilisierungsübungen, imaginative Verfahren sowie ein konfrontatives Arbeiten sind aus unserer Sicht nicht empfehlenswert.
4.5 Anforderungen an die Therapieplanung
Über die genauere Wahrnehmung konnte die Patientin die „Spielregeln“ der Beziehung besser verstehen, sich darüber mehr schützen und in Sicherheit bringen und damit auch gewaltvolle Übergriffe reduzieren. Die vom Partner ausgehende Gewalt bestand vor allem im psychischen Bereich, mit drohender physischer Gewalt, die sich in harten Berührungen sowie Schubsen zeigte, und die sich in der Vorstellung der Patientin steigerte: „Wenn ich nicht aufpasse, dann …“. Dies wiederum rief alte Verhaltensmuster hervor, sich über sexualisierte Gefälligkeiten so zu verhalten, dass der Partner im wahrsten Sinne des Wortes befriedigt wurde. Da er diese Form von Sexualität nutzte und förderte, hat er auch auf sexueller Ebene Gewalt ausgeübt. Durch die vielfältigen und sich durch die Biographie ziehenden Gewalterfahrungen erlebe die Patientin Gewalt als „normal“ und im Leben „dazugehörig“. In der Schlussfolgerung (Störung des Selbstkonzeptes) erlebe sie sich als „nicht wertvoll“ und schlussfolgert, dass sie deswegen auch „schlecht behandelt werden müsse“. Um das ausweglose Leid ertragen zu können, hat sie in einer Anpassungsreaktion bis heute präsente innere Wahrheiten entwickelt, die von ihr selbst kaum angezweifelt werden können. Deshalb ist es aus unserer Sicht zwingend notwendig, Patient*innen, die aktuell – also während einer laufenden Therapie – Gewalt erleben, psychotherapeutisch weiterzubehandeln.
Das aufgezeigte Vorgehen soll nur beispielhaft Orientierung geben und erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit für die Diagnostik und Intervention bei akuter IPV. Generell lässt sich jedoch sagen, dass Psychotherapie erst dann gelingen kann, wenn eine ausreichende äußere Sicherheit besteht. Das aktuelle Leben, vor allem eine ausreichende Existenzsicherung, stehen immer im Vordergrund und überlagern jede Bearbeitung innerer Themen. Deshalb empfiehlt es sich, eine gute Vernetzung zu anderen Fachrichtungen zu schaffen und mit Patient*innen ein (am Bedarf orientiert) multiprofessionelles Helfernetz aufzubauen (Epple, Croy & Schellong, 2011). Deshalb ist es schlicht nicht ausreichend, Betroffene in andere, schützende, „bessere“ Kontexte zu überführen. Sie müssen es im Inneren auch „halten können“ – und das zu stärken ist eine wichtige Aufgabe einer (oftmals längerfristigen) begleitenden Psychotherapie. Bindungsstörung bedeutet eben auch, dass es eine große Neigung zur symbiotischen Verschmelzung gibt, und diese drängt Betroffene immer wieder in Beziehungen zurück, auch in schädigende, in der Hoffnung, „nicht wieder alleine zu sein“.
4.6 Verlauf der weiteren Behandlung
Die Patientin konnte sich im Verlauf der bisherigen Psychotherapie so weit stärken, dass sie im Alltag sicherer unterwegs war. Darüber hinaus war eine zunehmende Distanzierung zum Partner möglich bei gleichzeitigem Erleben von „ich kann auch ohne ihn und möchte das so nicht mehr“.
Als erstes konnte sich die Patientin aus eigenen alten sexualisierten Mustern der Beziehungssicherung lösen. Die Reaktion des Partners wurde als dominant, einschüchternd und übergriffig in Wort und Tat geschildert. Die Patientin war zu diesem Zeitpunkt bereits so gestärkt, dass sie die Wahrnehmungen nicht mehr relativieren, entschuldigen oder gar verdrängen musste. Sie konnte sich dem eigenen Erleben zuwenden und sich auf den Weg machen, dem nicht mehr ungeschützt ausgesetzt zu sein. Da in einer eigenen Wohnung lebend, war es nicht zwingend, über ein Frauenhaus o. Ä. nachzudenken. Sie wies den Partner immer häufiger aus ihrer Wohnung. Als er ihr, narzisstisch gekränkt, irgendwann den Schlüssel für ihre Wohnung zurückgegeben habe, war sie in der Lage, diesen zu behalten, auch als sich die Beziehung wieder annäherte. Das On-off-Muster erstreckte sich über Jahre, wobei das Einwirken des Partners immer weiter reduziert wurde. Nach insgesamt drei Jahren der Psychotherapie konnte die Patientin die Beendigung der Partnerschaft halten. Diese dauert inzwischen rund ein Jahr an, führt aber auf der inneren Bühne immer noch zu Anstrengung, weil die kindlich-bedürftigen Ego-States nach wie vor versuchen, alles tun zu wollen, nur damit endlich jemand bleibt. D. h. die Patientin blieb gefordert, sich zu ihren eigenen Entscheidungen zu positionieren und mit dem inneren Vermissen ein Umgehen zu finden.
Nun endlich hat sich die äußere Situation so verändert und stabilisiert, dass die therapeutische Arbeit an grundlegenden Mustern gelingen kann und tatsächlich auch fortschreitet. Auf Symptomebene ist eine Reduktion der Schlafstörungen, des Hyperarousals, der Erschöpfung beobachtbar und verbalisiert worden. Ebenso verbesserten sich dissoziative Zustände. Auch die Gefühle der Angst und des Ausgeliefertsein sowie die Gefühle von Schuld und Scham haben sich deutlich – bei gleichzeitig steigender Alltagsstabilität – reduziert.
Der bisherige Verlauf umfasste über 100 Stunden tiefenfundierte Therapie. Perspektivisch wäre eine weiterführende traumaspezifische Behandlung indiziert.
4.7 Ableitbare Empfehlungen
Im geschilderten Fallbeispiel zeigten sich zunächst keine Anhaltspunkte für akute erlebte Gewalt. Dementsprechend wurden auch keine Schritte in diese Richtung gestartet. Erst mit zunehmender Anamnese insbesondere zu ehemaligen Paarbeziehungen sowie zwischenmenschlichen Beziehungen (Schwager, Betreuer*innen) wurde IPV in jahrzehntelangem Ausmaß und auch mit akuter Bedeutung (psychische Gewalt durch Ex-Mann) deutlich. Auch in der hausärztlichen Praxis wird die Häufigkeit auftretender häuslicher Gewalt oftmals unterschätzt. Laut Gysi (2021) sehen Hausärzt*innen die Rate von Gewaltbetroffenen bei unter 1 %. Eine gezielte Gewaltanamnese erfolge selten (Gerlach, 2013, zitiert aus Gysi, 2021, S. 272). Hierzu sei jedoch angemerkt, dass viele der beschriebenen Symptome der BSAT-Betroffenen oftmals nicht bewusst sind und diese erst verzögert auftreten, nachdem sie sich in Sicherheit bringen konnten. Eine Routinediagnostik bei der hausärztlichen Versorgung bei bestimmten Indikatoren oder Symptomen aus dem Erstbefund wäre daher eine ableitbare Empfehlung.
In der Praxis suchen Patienten*innen häufig auf Grundlage einer anderweitigen Symptomatik die Behandlung auf. Nicht selten werden anhaltende Gewalterfahrungen durch den Partner/die Partnerin dabei nur mit Unbehagen und hoher Ambivalenz geäußert. Viele Betroffene sind nicht in der Lage, die anhaltenden Gefahrensituationen selbst zu benennen oder werten dies als „zur Beziehung dazugehörig“. Bei Menschen, die aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung und/oder komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, aber auch bei anderweitigen Symptomen (wie oben dargestellt) die Behandlung aufsuchen, sollte zusätzlich in der Anamnese und auch im weiteren Verlauf nach anhaltenden Ereignissen gefragt werden sowie nach sichtbaren physischen Zeichen (Hämatome, Bewegungsabläufe) und Reaktionen (Ängste, Übererregbarkeit, Schreckhaftigkeit) bezüglich Gewalt Ausschau gehalten werden. Darauf hebt auch Gysi (2018, S. 92) ab, der Schellong, Epple und Böhm (2018) zitiert: „Körperliche und psychische Folgen erfordern sensibles, traumainformiertes Vorgehen beim Ansprechen … sowie gerichtsverwertbare Dokumentation, Abklärung des Schutzbedürfnisses und Weitervermittlung an Sozialberatung oder ggf. auch zur Psychotherapie“ (vgl. dazu auch GESINE- und S.I.G.N.A.L.-Leitfäden weiter unten). Im Vordergrund einer Psychotherapie stehen der Aufbau einer tragfähigen Beziehung, damit die anhaltende Gewalt in der therapeutischen Beziehung besprechbar wird, sowie die Vermittlung von Einsichten und Schritten zur Herstellung der äußeren Sicherheit.
5. Internationale Empfehlungen für die Einbettung in eine laufende Therapie
Bei Verdacht auf IPV und ihre Sonderform „anhaltende Gewalt“ greifen internationale Richtlinien und Empfehlungen, die im Folgenden näher beschrieben werden und auch in Deutschland Beachtung finden können.
5.1 McEvoy & Ziegler: Best Practices Manual for Stopping the Violence Counselling Programs in British Columbia (2006)
Zentral für die Wiederherstellung der Sicherheit (vgl. „first line support“ in Abschnitt 5.2) sind laut McEvoy und Ziegler (2006) die Herstellung eines Jetzt-Bezugs im Gegensatz zum Ereignisbezug („grounding“), das Ausüben von Kontrolle und freier Wahl, die Herstellung und Aufrechterhaltung von Kontakt zu anderen Menschen sowie, wenn möglich, die Unterstützung beim Einordnen der aktuellen Gefühle und Verhaltensweisen als Folge des Erlebten (S. 76ff.). Grounding kann durch authentisches Zuhören ohne Bewertung oder Nachfragen gefördert werden. Weiterhin soll zunächst kein Rat und keine Empfehlung ausgesprochen werden, um dem/der Patient*in die Kontrolle über die Situation zu überlassen und sie nicht vom Erkennen der eigenen Situation in Bezug auf IPV abzuschirmen. Es wird empfohlen, dass man die Aufmerksamkeit der/des Patient*in gezielt auf die aktuelle Umgebung und den eigenen Körper lenkt (z. B. durch gezieltes Atmen). Das Suchen nach Sicherheit soll als Prozess verstanden werden, der fortwährend beobachtet und auf Anzeichen von Fluchtreaktionen hin untersucht werden soll. Hilfreich können Visualisierungen sein. Gleichzeitig steht nicht fest, welche Aspekte der/dem Patient*in subjektive Sicherheit vermitteln, was ein gemeinsames Finden dieser Aspekte nötig macht. Hilfreich könnte es sein, nach Merkmalen subjektiv erlebter sicherer Situationen zu fragen.[3]
Aufgrund der häufig erlebten Schuldzuweisungen durch den/die Partner*in werde eine Betroffene Fragen nach dem Geschehen (Verhaltensweisen, Hintergründe, Lebensumstände) wahrscheinlich als vorwurfsvoll interpretieren oder starke Scham bei Fragen nach der Kindheit empfinden, was ein sensibles Erfragen nötig macht. Ebenso empfehlen die Autorinnen, die Einstiegsfragen auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Offensichtlich ist bei akutem Eindruck der IPV das Herstellen von Sicherheits- und Kontrollempfinden für Patient*innen hilfreicher oder bedeutsamer als das im therapeutischen Kontext übliche diagnostische Befragen. Die von Bogat et al. (2013) geforderte detaillierte Diagnostik zur IPV wäre dann also erst in der Folgezeit bzw. nach Herstellung der Sicherheit durchzuführen. Die folgende Eruierung der IPV basiert auf der Beschreibung des Erlebten durch den/die Betroffene*n sowie die damit verbundenen Gefühle, z. B. „Wie ist es für Sie zu Hause? Was macht Ihr*e Partner*in, wenn er/sie nicht seinen/ihren Willen bekommt? Schlägt er/sie Sie jemals?“ (S. 80, eigene Übersetzung). Bezogen auf die objektive Abschätzung der Sicherheit empfehlen die Autorinnen, auch die Bedrohungswahrnehmung und behandlungshinderliche Überzeugungen der/des Patient*in zu erfragen, ebenso wie die Wohnsituation, das Vorhandensein von Waffen, ausgesprochenen Drohungen gegen die/den Patient*in oder die Kinder, die Verkehrsanbindungen am Wohnort etc. Außerdem wird darauf eingegangen, dass als Reaktion auf IPV auch nicht-suizidale Selbstverletzungen oder Suizidalität bis hin zur versuchten Selbsttötung auftreten können.
Im Rahmen der post-akuten Beratung wird empfohlen, nach sozial eher unerwünschten Bewältigungsstrategien zu fragen und zu erklären, dass dies häufiger vorkommt, z. B. riskanter Alkohol- oder Medikamentenkonsum und Selbstverletzungen (ebd., S. 101). Diese können dann im Verlauf hinsichtlich ihrer Funktion hinterfragt werden. Ebenso soll ganzheitlich auch nach Ressourcen (z. B. soziale Unterstützungspersonen, frühere erfolgreiche Bewältigungsstrategien bei Stress) gefragt werden, aber auch Symptome posttraumatischer Belastung und körperlicher Folgen wiederholt betrachtet werden. Die weitere Behandlungsplanung entspricht bekannten therapeutischen Vorgaben (z. B. gemeinsam Ziele formulieren, Methoden transparent benennen, Pläne an die Entwicklung der/des Patient*in anpassen).
5.2 WHO: Responding to Intimate Partner Violence and Sexual Violence against Women – WHO Clinical and Policy Guidelines (2013)
Die Synthese aus über 140 Studien weltweit (WHO, 2013) deckt sich in vielen Ergebnissen mit anderen Empfehlungen (McEvoy & Ziegler, 2006), bietet jedoch zusätzlich Evidenzbewertungen einzelner Maßnahmen der psychosozialen Versorgung. Eine Abfrage ist in den Fällen nötig, wo IPV-Folgen bzw. Symptome bestimmter Störungen (Angststörungen, PTBS, depressiven Störungen und Schlafstörungen) vorliegen. Sogenannter „First-Line-Support“ ist immer nötig und beinhaltet das Eingehen auf akute Sorgen, eine nicht-verurteilende Haltung, offenes Zuhören ohne Aufforderung zu Detailschilderungen, das Anbieten von Trost und Unterstützung zur Reduktion akuter Ängstlichkeit, das Angebot zur Unterstützung beim Kontakt zu örtlichen Hilfsstellen (z. B. Kassenärztlicher Bereitschaftsdienst, Beratungsstellen, Opferhilfe, Frauenhaus) sowie das Herstellen einer sicheren Umgebung. Räumliche Unterbringung in schützender Umgebung ist keine SOLL-Empfehlung, aber im Fall einer bestehenden Schwangerschaft eine Möglichkeit. Als weitere Interventionen bezüglich der IPV-induzierten Belastung werden, allerdings mit schwacher bis nicht vorhandener Evidenz, schriftliche Anleitungen zu Stress-Coping-Skills empfohlen, aber nicht psychologisches Debriefing (Empfehlungen 22 und 23). Evidenzbasierte Behandlungen einer psychischen Störung können trotz IPV beginnen, setzen aber Expertise voraus (Empfehlung 5: IPV-Erkennung, Kommunikation, Sicherheitsabschätzung). Folgestörungen und ihre Symptome sollten auch in den drei Monaten nach IPV-Ende aktiv erfragt werden (Empfehlung 28) und durch evidenzbasierte Interventionen behandelt werden (z. B. KVT, EMDR; Empfehlungen 26 und 27). Sogenanntes „watchful waiting“ empfiehlt sich nur bei symptomfreien Patient*innen (Empfehlung 25).
5.3 Weitere (inter)nationale Empfehlungen
Sowohl das GESINE-Netzwerk als auch der Verein S.I.G.N.A.L. haben deutschsprachige Schritt-für-Schritt-Anleitungen veröffentlicht. GESINE richtet sich an Hausärzt*innen und will vor allem das Erkennen von IPV (durch schriftliche Routinescreenings), das Ansprechen der IPV (durch Gesprächsführungstechniken), die gerichtsverwertbare Dokumentation sowie die Weitervermittlung in Psychotherapie und Beratungsstellen stärken (Steffens, 2014). S.I.G.N.A.L. ist vergleichbar aufgebaut und auf medizinische Versorgungsszenarien zugeschnitten (www.signal-intervention.de/signal-leitfaden). Beide Anleitungen enthalten Schritte zum Aufbau von Sicherheit und Schutz für Patient*innen und ihre Kinder. Es sollen Ressourcen und Hilfsmaßnahmen angeboten werden, sofern Patent*innen zustimmen.
Bogat et al. (2013) stellten einen eklatanten Mangel an Forschung bezüglich Psychotherapie bei Frauen, die unter IPV leiden, fest. Kritisiert wird insbesondere die zu kurzen und häufig von „paraprofessionals“ (S. 190) durchgeführten Angebote bei IPV, die zwar in den beiden Folgemonaten die Lebensqualität und soziale Unterstützung erhöhen, aber in 31 bis 44 % der Fälle erneute IPV in den kommenden sechs Monaten nicht verhindern konnten (Stover, Meadows & Kaufman, 2009). Sie empfehlen daher psychodynamische und kognitive Verfahren (vgl. Tabelle 2). Insbesondere die Erhebung zur IPV soll im Rahmen der Behandlung sensibel fortgeführt werden, da anfangs vermutlich nur ein Teil des IPV-Ausmaßes berichtet werde. Für eine vertrauensvolle Atmosphäre müsse sich die Betroffene sicher vor dem/der Partner*in fühlen, Vertrauen in die eigene Bewältigungsfähigkeit bei aufkommender Scham und das Gefühl haben, volle Kontrolle über das Narrativ des Erlebten zu bekommen. Andernfalls würden IPV und ihre Folgen entweder gar nicht, nicht umfassend oder verharmlosend berichtet.
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Tabelle 2: Best-Practice-Empfehlungen zur Psychotherapie bei IPV nach Bogat et al. (2013)
Speziell für Patient*innen mit lesbischer, schwuler oder bisexueller Zugehörigkeit finden sich Empfehlungen bei Wolf, Fünfgeld, Oehler und Andrae (2015). Ihnen zufolge tritt IPV bei schwulen Paaren etwa gleichhäufig, bei lesbischen Paaren etwas seltener als bei heterosexuellen Paaren auf. Erschwerend kommt für die Betroffenen hinzu, dass in diesen Fällen weniger gesellschaftliche Unterstützung, aber stärkere Stigmatisierung und Diskriminierung wahrnehmbar ist bzw. vorliegt, was zu einer Internalisierung der erlebten Homonegativität führen kann. Daher fällt es Betroffenen nochmals schwerer, IPV anzusprechen. Hauptziele im Rahmen einer Psychotherapie sind den Autor*innen zufolge die wiederholte Abschätzung von Gefährdungen sowie das Erkennen von und der Schutz vor Gewalt und Gewaltdynamiken (Empfehlung 9). Das Einschalten von oder Verweisen an weitere Helfersysteme muss je nach Bedarf geprüft werden. Bei Jugendlichen ist besonders auf erhöhte Suizidalität und Gewalt auch in der Herkunftsfamilie zu achten (Empfehlung 12).
5.4 Konkrete Behandlungsprogramme/Manuale
Spezifisch für die Behandlung von IPV-assoziierten Belastungssymptomen und beeinträchtigter Lebensqualität bieten Berliner, Merchant, Roberts und Martin (2020) das kostenfreie englischsprachige Manual „Washington State – Cognitive Behavioral Therapy (CBT) Guide for Intimate Partner Violence“ an. Es basiert auf etablierten und evidenzbasierten Inhalten vor allem aus der KVT, insbesondere Psychoedukation, Training der Emotionsregulations-Fertigkeiten, kognitive Umstrukturierung und individuelle Verhaltensanalysen. Das Manual besteht aus 29 multimodalen Sitzungen im Rahmen einer Einzeltherapie. Sitzungsthemen sind z. B. „Definition von IVP“, „DBT“, „Problemlösen“, „KVT“. Für jede Sitzung gibt es einen vorgegebenen zeitlichen Ablauf, kurzgefasste Angaben zu inhaltlichen Themen sowie methodische Anregungen zur Umsetzung. wie z. B. Videoausschnitte aus dem Internet, Verweise auf bekannte Erklärungsmodelle sowie Handouts. Die Anwendbarkeit als Gruppensitzung oder die Notwendigkeit einzelner Sitzungen wird nicht detaillierter erläutert.
Eine aktuelle Cochrane-Meta-Analyse mit 33 eingeschlossenen klinischen Trials und 77.005 weibliche Patient*innen überprüfte ähnliche Programme (Hameed et al., 2020). Das Ergebnis ist, womöglich gerade aufgrund des Einbezugs von bisher nicht als evidenzbasiert eingestufter Verfahren wie spiritueller Therapie, nicht unerwartet: Die Interventionen haben insgesamt nur sehr wenige positive Effekte. Ängste und Angststörungen werden zwar bedeutsam reduziert, Depression und PTBS allerdings nur geringfügig, während sich gar keine Auswirkungen auf Selbstwirksamkeit oder Therapieadhärenz fanden. Leider wurden keine Studien mit deutschsprachigen oder mitteleuropäischen Patient*innen eingeschlossen, ebenso wenig wie Studien mit nicht-weiblichen Patient*innen oder zu psychodynamischen Ansätzen wie bei Bogat et al. (2013).
6. Drei Visionen für die Zukunft
6.1 Vermeidung stigmatisierender Erklärungen
Einige Fachkräfte setzen voraus, dass nach dem Berichten über IPV sofort die Beziehung zum/zur gewalttätigen Partner*in abgebrochen wird und/oder der fehlende Kontakt zum/zur Täter*in eine Voraussetzung für den Beginn einer Psychotherapie darstellt. Ein Großteil (71 %) rät ungefragt zum Beenden der Partnerschaft, während ein deutlich kleinerer Teil die akute Gefahr berücksichtigt im Sinne gemeinsam ausgehandelter Sicherheitsmaßnahmen (31 %; Morse, Lafleur, Fogarty, Mittal & Cerulli, 2012). Manche Behandelnden machen dies zur Bedingung einer Weiterbehandlung und erwarten die Aufgabe des „selbstschädigenden Verhaltens“. Trotzdem verbleiben die Patient*innen häufig in der gewalttätigen Partnerschaft. Individualpsychologische Erklärungsansätze haben hierzu Kognitionen, Affekte und Verhalten vor allem auf Patient*innenseite betont, z. B. ausgeprägte Scham, Angst vor Schuldzuweisungen, Loyalität zum Partner bzw. zur Partnerin. Zudem spielen aber auch drohende Reaktionen anderer eine bedeutende Rolle, z. B. Nicht-ernst-genommen-Werden durch Vertrauenspersonen und Vertreter*innen von Institutionen, erzwungene soziale Isolation, Mangel an sozialer Unterstützung, Ängste vor angedrohter Ermordung oder finanziellem Ruin (Alder, 2013; Bogat et al., 2013). Hier eine freie, bewusste, abgewogene Entscheidung zu unterstellen, entspricht in zahlreichen Fällen nicht der Realität und führt zu invalidierenden Schlussfolgerungen und Kausalzuschreibungen auf die Betroffenen. Tatsächlich bleiben Betroffene wahrscheinlicher in der gewalttätigen Beziehung, wenn sie die erlebte Gewalt als logische Konsequenz ihres eigenen Handelns („Schuld“) ansehen bzw. als internal und unveränderlich attribuieren. Außerdem gerät in den Hintergrund, dass nicht „die Partnerwahl“ IPV hervorruft, sondern dass die Gewalt das Verhalten der gewalttätigen Person ist. Die Veränderungsnotwendigkeit somit vor allem auf Patient*innenseite zu konstruieren, fördert implizit eine Haltung des „Victim Blaming“ bzw. Täter-Opfer-Umkehr (Hagemann, 2016), also der Umkehrung der Kausalität hin zu unveränderbaren oder „schuldhaften“ Ursachenzuschreibungen. Letztendlich erreicht Psychotherapie nicht direkt die Gewalt verursachende Person; vielmehr soll sie die Betroffenen stärken, dass es ihnen gelingt, Beziehungen kompetent und gewaltfrei zu gestalten und gegebenenfalls auch neu zu definieren. In diesem manchmal langwierigen Prozess kann Psychotherapie sehr hilfreich sein.
6.2 Partizipative Entscheidungsfindung und Empowerment
Hier rückt die (Wieder)Erlangung der Kontrolle der/des Patient*in in den Vordergrund und damit ein selbstwertdienlicher, selbstverstärkender Mechanismus. Im geschilderten Fallbeispiel fördert die Therapeutin dies einerseits durch eine klare und Augenhöhe einfordernde Haltung in Hinblick auf die Benennung und Nicht-Akzeptanz von IPV. Ebenso verfolgt sie ein nicht-direktives, nicht-beratendes Analysieren von Beziehungen sowie damit assoziierten Kognitionen bzw. Schemata. Damit zeigt sie mögliche Wege auf, lässt jedoch genug Raum zur Selbstermächtigung und damit verbundener Persönlichkeitsentwicklung. Eingebettet wird der Prozess in die Psychoedukation zu störungsrelevanten Aspekten. Diese Form der patient*innengesteuerten kompetenzorientierten Veränderung kann als Empowerment (Finzen, 2010) verstanden werden – also ein zentraler Baustein auf dem Weg zur Entstigmatisierung. Damit könnte über die Psychotherapie hinaus auch ein Stück gesellschaftliche Akzeptanz der Rolle als Betroffene geschaffen werden, was wiederum die häufig angesprochene Scham (im Sinne der Angst vor sozialer Ausgrenzung) reduzieren könnte. Scham spielt offensichtlich auch eine Rolle für die Entscheidung der/des Patient*in, Gewalt etwa im Rahmen der Anzeigeerstattung und Strafverfolgung öffentlich zu machen. Im Sinne des sozialpsychiatrischen Empowerments wäre eine fachbasierte und fundierte Aufklärung zur möglichen strafrechtlichen Verfolgung sinnvoll (DHS, 2020, S. 29–30) und kann durch die Weitervermittlung an lokale Rechtsberatungen zum Opferschutz und Rechtsmedizin ergänzt werden (Seifert, Heinemann & Püschel, 2006).
6.3 Unterstützung für Therapeut*innen
Damit eine Therapie trotz oder wegen IPV möglich wird, sind mehrere Punkte von Bedeutung. Erstens sollten sich Therapeut*innen die Behandlung und den Umgang mit dem Thema zutrauen. Dazu bedarf es der Auseinandersetzung mit persönlichen Ansichten zur Thematik sowie zu Opfer-Täter-Rollen auf Einstellungsebene (Alder, 2013). Ebenso müssen zeitlich-räumliche und finanzielle Voraussetzungen geschaffen sein. Dafür muss mitunter eine längere Therapielaufzeit mit zusätzlichen Sitzungen, Sitzungsinhalten sowie Methoden vorbereitet werden und beantragbar bzw. abrechenbar sein. Methodisches und inhaltliches Wissen sollte im Rahmen von Weiterbildungsmaßnahmen etwa durch die Berufsverbände angeboten werden (Wenzlaff, Goessmann & Heine-Brüggerhoff, 2001) – laut WHO (2013) im Optimalfall auch interdisziplinär gemeinsam mit Mediziner*innen, Gesundheits- und Krankenpfleger*innen, Geburtshelfer*innen. Als Inhalte werden empfohlen (WHO, 2013, Empfehlungen 30–33 und Kapitel 4): Befragungstechniken, Übungen in First-Line-Support, Kurzinterventionen, Hintergrundwissen „Gewalt & Gesetze“ sowie lokale Unterstützungsangebote für Betroffene und Wissen zu unangemessenen Haltungen. Qualifizierungsangebote sind beispielsweise über die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) abrufbar (siehe auch DHS, 2020, S. 39–41). Das hinzugewonnene Wissen kann dann instituts- oder praxisintern in die bestehenden Abläufe integriert werden, so dass mit eventuell wartenden Partner*innen umgegangen werden kann, von denen eine Gefahr ausgeht. Schließlich sollten auch Beratungs- und Supervisionsmöglichkeiten bekannt sein und genutzt werden („counseling the counselor“; SAT, 2001, S. 21; McEvoy & Ziegler, 2006).
7. Zusammenfassung
Fachkräfte im Gesundheitswesen sind oft erste Kontaktpersonen für Opfer häuslicher Gewalt. Wichtig für den Umgang mit IPV in der Therapie ist neben der Einschätzung einer akuten Gefährdungslage vor allem die Frage, ob die zu behandelnde Störung die Auswirkung anhaltender Gewalt ist (z. B. BSAT) oder ob die Störung parallel zur IPV besteht bzw. schon vorher bestand.
Aus unserer Sicht lässt sich vor allem feststellen, dass es durchaus konkrete erfahrungsbasierte Empfehlungen und Ansätze gibt, die dabei unterstützen, eine Psychotherapie trotz auftretender IPV weiterzuführen. Eine Zusammenfassung wichtiger Empfehlungen für den Umgang mit IPV sind in Tabelle 3 dargestellt. Wenn auch keine ausreichende Evidenz eine durchschlagende Wirksamkeit der „Behandlung“ von IPV vorgelegt werden kann, so ließ sich trotzdem zeigen, wie wichtig und wertvoll niedrigschwellige wie auch professionell-hochqualifizierte Angebote in der Betreuung von IPV-Betroffenen sind. Perspektivisch wären hier weitere interdisziplinäre Helfernetzwerke wünschenswert, um den Ausstieg aus einer gewalttätigen Beziehung – wenn gewünscht – zu ermöglichen, sowie die Herstellung der äußeren Sicherheit, um sich im zunehmenden psychotherapeutischen Prozess den Folgen und Auswirkungen der erlebten Gewalt widmen zu können.
Do’s/Interventionsmöglichkeiten | Dont’s |
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Tabelle 3: Wichtige Empfehlungen für den Umgang mit IPV gegen Patient*innen
Dabei ist zu beachten, dass die Empfehlungen durchaus zeitlichen Wandlungen unterliegen können. Während im vergangenen Jahrhundert vor allem die Sicherstellung der körperlichen Unversehrtheit im Vordergrund stand (vgl. GESINE, S.I.G.N.A.L.), werden zunehmend die Rückerlangung individualistischer Handlungskontrolle (z. B. Berliner et al., 2020) sowie die Stärkung gegen psychische Gewalt und Nötigung in den Vordergrund gerückt (Bogat et al., 2013), um Betroffene gegen zukünftige IPV zu stärken, statt sie lediglich vor aktueller IPV abzuschirmen. Glücklicherweise finden auch die mitbetroffenen Kinder zunehmend Eingang in die Konzeption und die Therapieempfehlungen (McEvoy & Ziegler, 2006, S. 78). Dies kann bei therapeutischer Beachtung zu einer Entlastung der Patient*innen führen und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Anzeige gegen die gewaltausübende Person erstattet wird (McEvoy & Ziegler, 2006 S. 78).
7.1 Therapieabbruch bei IPV?
Während alle zusammengefassten Arbeiten die Hinzunahme von Schutzeinrichtungen wie beispielsweise Frauenhäusern diskutieren, sollen diese laut Ansicht mehrerer Autor*innen nur bei Bedarf erfolgen und ersetzen in der Regel nicht die psychotherapeutische Betreuung – zumal diese möglicherweise sogar erst durch die IPV nötig wurde. Im Einzelfall kann dies zwar notwendig werden. Eine ausnahmslose oder generelle Weitervermittlung der/des Patient*in in Frauenschutzhäuser ist jedoch nicht abzuleiten. Ebenso wenig erscheint es generell notwendig oder empfehlenswert, eine beginnende oder laufende Psychotherapie auszusetzen oder zu beenden. Im Gegenteil: Die Bereitschaft der Patient*innen, über IPV zu sprechen, ist vielmehr als Zeichen einer gelingenden therapeutischen Beziehung anzusehen. Diese braucht Sensibilität, Geduld und Zeit, wie Alder beschreibt: „Die Schwierigkeiten des Opfers, über die erlebte Gewalt zu sprechen und damit die Loyalität zum Täter zu brechen, führen dazu, dass in der Regel ein therapeutischer Zugang erst nach längerer Zeit möglich wird“ (Alder, 2013). Eine Therapiepause oder ein Abbruch ist aus Sicht der Patient*innen wiederum ein erneuter Bruch mit einer Vertrauensperson. Angesichts des oftmals stark eingeschränkten sozialen Umfeldes bei IPV bis hin zur Isolation (Bogat et al., 2013) kann dieser Verlust umso schwerer wiegen. Nicht zuletzt machen viele Autor*innen deutlich, dass die therapeutische Versorgung der psychosozialen Belastungen sehr spezifisch in unseren Berufsgruppen verortet werden und auch interdisziplinäre Vernetzung angeregt werden sollen (McEvoy & Ziegler, 2006; Steffens, 2014; WHO, 2013), da lokale Netzwerke oft nicht bekannt sind und Weiterbildungen gewünscht werden (Epple, Croy & Schellong, 2011; Wenzlaff, Goessmann & Heine-Brüggerhoff, 2001).
Literatur
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Zu den Autor*innen
Hendrikje ter Balk, B. Sc. (Soziale Arbeit) M. Sc. (Suchttherapie), studierte nach ihrer Ausbildung zur staatlich geprüften Gymnastiklehrerin/Sporttherapeutin im Master Suchthilfe/Suchttherapie (Katholische Hochschule Köln) und besuchte u. a. das Fortbildungscurriculum der DeGPT inkl. EMDR-Ausbildung am Deutschlandinstitut. Nach mehrjähriger Berufserfahrung im stationären Setting für Abhängigkeitserkrankungen, Traumafolgeerkrankungen sowie Persönlichkeitsstörungen arbeitet sie derzeit sowohl als Heilpraktikerin für Psychotherapie in eigener Praxis in Köln als auch in der „Agenda bedarfsgerechte Versorgung“ (www.bedarfsgerechte-versorgung.de) für Themen, die politisch in der Versorgungsstruktur unzureichend geklärt sind, wie z. B. langfristige Versorgung bei komplex traumatisierten Menschen.
Martina Hahn, Dipl.-Psych., studierte in Düsseldorf Psychologie. Therapeutische Ausbildung im Rahmen der Übergangsregelung des Psychotherapeutengesetzes im Verfahren der Tiefenpsychologisch Fundierten Psychotherapie u. a. am Institut für Psychotherapie und Psychoanalyse Rhein-Eifel sowie im Weiterbildungskreis Psychosomatische Medizin und Psychotherapie e.V., Bad Salzuflen. Niedergelassen in eigener Praxis in Neuss, im Verfahren der Tiefenpsychologisch Fundierten Psychotherapie für Erwachsene. Fortbildung am Institut für Psychotraumatologie, Prof. Dr. Luise Reddemann. Akkreditierung „Spezielle Psychotraumatherapie“ DeGPT. Die Behandlung von Traumafolgestörung ist Schwerpunkt der psychotherapeutischen Tätigkeit. Lehrtherapeutin, Dozentin, Supervisorin, Selbsterfahrungsleiterin.
Sören Kuitunen-Paul, Dr. rer. nat. Dipl.-Psych., studierte in Würzburg und Dresden Psychologie und arbeitete währenddessen als studentische Hilfskraft in den Bereichen Psychosomatik und klinische Psychologie. Danach promovierte er am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Dresden. Seit 2018 koordiniert er die Forschungsgruppe „Stress und Substanzabhängigkeit“ an der Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Dresden. Neben freiberuflichen Tätigkeiten als Coach, Referent und Kursleiter in der Tabakentwöhnung setzt er sich für die Entstigmatisierung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ein.
Korrespondenzadressen
Hendrikje ter Balk
Psychotherapeutische Praxis nach dem Heilpraktikergesetz
Agenda bedarfsgerechte Versorgung – Hendrikje ter Balk
Postfach 210465
50530 Köln
E-Mail:praxis@ter-balk.de
Martina Hahn
Psychotherapeutische Praxis
Grünstr. 12a
41460 Neuss
E-Mail:praxis@martinahahn.de
Sören Kuitunen-Paul
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Medizinische Fakultät
Technische Universität Dresden
Fetscherstr. 74
01307 Dresden
E-Mail:soeren.kuitunen-paul@ukdd.de
[1] Der weitere Text bezieht sich explizit auf Personen mit weiblicher Geschlechtsidentität. Die Autor*innen sind aber davon überzeugt, dass IPV ein ebenso relevantes Thema in der Therapie aller Therapiepatient*innen darstellt, gleich welchen Geschlechts oder welchen Genders. Gleichzeitig soll die inkludierende Schreibweise insbesondere bei den IPV-Ausübenden darauf hinweisen, dass die Gewalt überwiegend, aber nicht nur durch männliche Partner ausgeübt wird.
[2] Einzelne Aspekte wurden im Einverständnis mit der Patientin verfremdet.
[3] Leider geben die Autorinnen an der Stelle explizit solche Fragen als Beispiel an, die vielmehr Aspekte der Unsicherheit fokussieren: „Ask her about times she has felt really safe in her life. What was the experience like in her body? Are there times she feels that way in her relationship? How does she experience unsafe? What are the cues—emotional, physical or cognitive—that she is not safe?“ (ebd., S. 79).
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